Diese Geschichte war der Ersatz für "Spiegelblider", die leider bei dem Wettbewerb, wo ich sie eingeschickt habe, nichts gewonnen hat. Diese hier ist aber ziemlich traurig, trotzdem: Genießt es!
Eure Rose
Aminas Augen
Das kleine Zimmer im Krankenhaus ist dunkel, es riecht schrecklich nach Desinfektionsmitteln und man hört mehrere Geräte piepsen. Amina ist viel zu schwach, um noch etwas davon wahrzunehmen, sie hat schon Probleme damit zu Atmen und bemerkt gar nicht, dass ich eingetreten bin, bis ich mich an ihr Bett setze.
Sie schlägt unglaublich langsam ihre Augen auf, die einst strahlend grün wie das Meer gewesen waren. Jetzt starren sie mich blicklos und seltsam leer an. Die Augen meiner Schwester sind immer noch grün, aber der Unfall hat irgendwie die Essenz der Farbe aus ihnen herausgesaugt. Es ist kein lebendiges grün mehr, aber Aminas Augen sind auch nicht mehr richtig lebendig – sie ist blind. Vorsichtig nehme ich ihre Hand.
„Hallo Ina“, flüstere ich.
„Hallo Greg“, sagt sie, noch hundertmal leiser als ich, schon seit Wochen ist sie kaum noch zu verstehen. Die Ärzte sagen, dass sie nicht mehr lange leben wird. Aber das weiß Amina nicht. Sie ist doch erst acht Jahre alt!
Die Welt ist nicht fair. Warum darf der Motorradfahrer einfach weiterfahren wenn meine Schwester sterben muss?
„Erzähl… mir was, Greg…“, bittet sie mich leise.
„Es war einmal ein kleines Mädchen…“
„Wie alt war sie?“, fragte Amina angestrengt und ich bemerke, dass eines der Geräte plötzlich schneller piepst.
„Sie war acht Jahre alt. Also, das Mädchen, das acht Jahre alt war, tanzte Ballet. Sie hieß…“, ich denke mir schnell einen Namen aus, damit Amina nicht wieder fragen kann, „Sie hieß Maren. Maren tanzte schon Ballet seit sie fünf Jahre alt war und sie tanzte am besten aus ihrer Gruppe, weil sie jeden Tag eine Stunde zuhause übte. Doch dann verstauchte sie sich einmal beim Training den Knöchel.“
„Die Arme. Das tut doch weh!“, beschwerte Amina sich.
In solchen Momenten kann ich meine kleine Schwester nur bewundern. Seit Monaten liegt sie im Krankenhaus, hängt am Tropf, wird oft künstlich beatmet und wenn sie zu lange bewusstlos ist, dann bekommt sie auch ihr Essen aus der Spritze und trotzdem kommt ihr der verstauchte Knöchel eines ausgedachten Mädchens entsetzlich vor.
„Ja, Ina, verstauchte Knöchel tun ziemlich schlimm weh, aber viel schlimmer war für Maren, dass sie am nächsten Tag vortanzen sollte und es nicht konnte, weil ihr Knöchel so wehtat. Sie wollte unbedingt tanzen und wie…“
Erschrocken unterbreche ich die Geschichte, als Amina anfängt zu husten. Ich drücke schnell auf den Knopf, der die Krankenschwester herruft und helft Amina, sich hinzusetzten. Normalerweise wird es besser, wenn sie sitzt, aber heute nicht. Sie krümmt sich, wärend der Husten sie schüttelt, klammert sich an meine Hand und würgt.
Blut tropft auf die weiße Bettdecke.
Die Schwester kommt in dem Moment ins Zimmer, in dem ich losschreie. Ich kreische wie ein Mädchen, solche Angst habe ich um Amina, die immer mehr Blut ausspuckt.
„Alles gut… Greg“, keucht sie, noch atemloser als sonst. Unglaublich, wie stark meine Schwester ist, die mich trösten will, wenn es ihr so schlecht geht. Leider hilft es nichts, ich weiß, dass ihr Trost eine Lüge ist, denn ihre roten Haare sind nass geschwitzt, sie zittert, ist leichenblass und die Ringe unter ihren Augen sind noch deutlicher zu sehen als sonst. Ich klammere mich genauso verzweifelt an ihre Hand wie sie sich an meine und meine Nase und die Augenwinkel brennen, während sich die Tränen ihren Weg bahnen.
„Ina… Ina…“, flüstere ich mit zitternder Stimme und meine Schwester krallt mit für sie ungewöhnlicher Kraft ihre Fingernägel in meine Hand, alles um mich herum piepst schnell und unregelmäßig. Dann wird Aminas Hand schlaff und die Pieptöne verschmelzen zu einem langen Kreischen.
Ich sehe von Aminas Hand zur Schwester und bemerke erst jetzt den Arzt, der sich um Amina gekümmert hat.
Ihm stelle ich die Frage, vor der ich mich schon fürchte, seit ich meine kleine Schwester blutend und verrenkt auf der Straße liegen sah – obwohl ich die Antwort kenne.
„Ist sie tot?“
Ich wundere mich selber darüber, dass meine Stimme beherrscht klingt, dass die Tränen nicht überlaufen und dass ich nicht einfach zusammenbreche.
„Ja“, flüstert der Arzt mitleidig.
Langsam und vorsichtig bewege ich meinen Kopf, als könnte ein Blick meine Schwester verletzen, als könnte irgendetwas sie jetzt noch verletzen und sehe in Aminas starre, blicklose Augen.
Man sagt immer, wenn jemand stirbt, verlieren die Augen den Glanz, man sieht in den Augen, dass die Seele nicht mehr da ist. Aber Aminas Augen verändern sich nicht. Sie sind genauso tot, wie sie es in den letzten Monaten ihres Lebens waren.
Amina sieht nicht tot aus, sie liegt einfach still da, als hätte eine meiner Geschichten sie wieder gefesselt, nachdem sie genug gefragt hatte. Nicht tot. Meine kleine Schwester kann nicht tot sein! Mein Gehirn versteht es, aber mein Herz kann es nicht akzeptieren, will es nicht verstehen. Ich will sie nur wieder lachen hören, ihr glockenhelles, unbeschwertes Lachen, dass sie schon so lange nicht mehr gelacht hat.
Sie lachte, als sie über die Straße lief. Es war eine Spielstraße, aber das war dem Motorradfahrer egal, der angerast kam…
Ich muss meinen Kopf ordentlich schütteln, um die Gedanken zu vertreiben, die alles nur noch schlimmer machen werden, und es gelingt mir. In meinem Kopf bleibt nichts als dumpfe Leere.
„Ich muss Papa anrufen“, erkläre ich trocken und schlurfe aus dem kleinen, nach Desinfektionsmittel riechenden Krankenzimmer, das ohne das Piepsen, das mich so genervt hat, viel zu still geworden ist.